Wut: Das potenziell positive Potenzial

Geschwurbel von Daniel Schwamm (05.03.1994)

Ein Dialog

1: Hallo.

2: Mh.

1: Wie geht's?

2: Nun ja ...

1: Ist was?

2: Nein.

1: Warum bist du dann so komisch?

2: Ich bin nicht komisch. Ganz im Gegenteil.

1: Ich habe auch nicht gemeint, dass du übertrieben lustig wärst.

2: Schon gut, schon gut, ich weiss, was du gemeint hast.

1: Also - willst du darüber reden?

2: Es gibt nichts zu bereden.

1: Komm schon! Raus mit der Sprache! Irgendetwas bedrückt dich doch.

2: Nun ja, weisst du, es ist wegen meiner Freundin.

1: Deiner Freundin? Wieso? Was ist passiert?

2: Gestern hat sich mich ... nun ja, genervt. Und da bin ich wütend geworden. Ziemlich wütend ...

1: Ziemlich wütend?

2: Ja. Ich habe völlig überreagiert. So viel ist mir inzwischen klar geworden.

1: Du meinst, du hast gar keinen Grund gehabt, so wütend zu werden.

2: Ja. Es ging nur um eine Meinungsverschiedenheit, um praktisch gar nichts. Aber ich bin trotzdem voll aus der Haut gefahren.

1: Du hast ihr doch hoffentlich nichts angetan?

2: Nein, nein, zum Glück nicht. Physisch habe ich sie nicht angerührt. Aber psychisch hat sie bestimmt einen Schock weg. Ich habe sie richtiggehend angebrüllt.

1: Nicht gerade der beste Weg, um Konflikte aus der Welt zu schaffen. Denn Brüllen artet gerne zur Einbahnstrasse aus. Und eine Kommunikation im Simplex-Betrieb, das ist eine reichlich einseitige Sache.

2: Du und deine idiotisch-weisen Sprüche. Typisch.

1: Nun ja, ist doch wahr, oder. Wütend herumbrüllen, was bringt das schon - ich meine ausser Halsschmerzen?

2: Nun ja, danach fühlt man sich besser.

1: Wirklich? Du auch?

2: Natürlich. Ich habe doch dabei die ganze Wutenergie raus gelassen, der Wut sozusagen ein Ventil zum Ausweichen gegeben.

1: Und du fühlst dich also wirklich besser?

2: Ja, sage ich doch.

1: Ganz sicher?

2: Sage mal, wie oft noch: Ja, ja, ja. ich fühle mich prima.

1: Und du willst nicht mehr wütend sein, wie du behauptest? Warum fängst du dann fast zu toben an, nur weil ich dich wiederholt etwas gefragt habe?

2: Blödsinn, ich tobe gar nicht herum ... Vielleicht bin ich etwas ... nun ja ... durcheinander. Ich meine, das hat nichts mit Wut zu tun.

1: Ach ja?

2: Ich meine, nicht mit meiner Wut von gestern. Das ist eine neue Wut.

1: Ich denke aber eher, dass es doch noch die Wut von gestern ist.

2: Quatsch. Ich habe dir doch gesagt: Ich brüllte und tobte herum wie ein eifersüchtiges Gorillamännchen - die Wut ist raus. Restlos.

1: Vorhin als ich gekommen bin, ist mir aber gleich aufgefallen, dass du komisch bist. Erinnerst du dich?

2: Ja, schon. Na und?

1: Tja, ich behaupte, du warst so komisch, weil du die Wut von gestern eben doch noch nicht ganz so losgeworden bist, wie du mir und dir selbst Glauben machen willst.

2: Nun ja ... Okay, ein bisschen steckt mir das, was gestern passiert ist, schon noch in den Knochen, das gebe ich zu.

1: Du meinst: Wut steckt noch in deinen Knochen.

2: Ja, ja, von mir aus auch Wut. Aber es ist nicht mehr die Wut auf meine Freundin - die ist wirklich verraucht, denke ich. Nein, ich bin bloss etwas zerknirscht, weil ich ihr gegenüber so überreagierte.

1: Mit anderen Worten: Du bist wütend auf dich selbst.

2: Ja, das ist es wohl. Jetzt wo du es sagst, erkenne ich es auch.

1: Wieder mit anderen Worten: du bist deine Wut - trotz deiner gegenteiligen Beteuerungen - definitiv nicht losgeworden. Ihre Energie rumort noch immer in dir herum, nur hat sie sich jetzt gegen dich selbst gerichtet.

2: Mh ... ja. Im Moment würde ich mir zweifellos am liebsten selbst einen Kinnhaken verpassen.

1: Und fühlst du dich dabei gut?

2: Was für eine blöde Frage - natürlich nicht. Ich fühle mich mies, Mann. Wie ein hundsgemeiner Kerl, verstehst du? Was ich meiner Freundin angetan habe ... Ich kann mich bei ihr vorerst nicht mehr blicken lassen, so viel ist sicher. Würde mich nicht einmal wundern, wenn sie nie mehr etwas mit mir zu tun haben will.

1: Aha. Was haben wir also ebene gerade gelernt?

2: Gelernt?

1: Nun, wir haben eben gelernt, dass es keinen Sinn hat, seine Wut offen herauszulassen. Du hast es getan und die Folge: deine Freundin fühlt sich schlecht, du fühlst dich schlecht. Und die Wut ist nach wie vor da, so sehr, dass du sogar mich fast angeschnauzt hättest. Dann würde auch ich mich jetzt noch schlecht fühlen. Und alles nur, weil du dein Maul so weit aufreissen musstest.

2: Na gut. Aber was hätte ich denn machen sollen. Die Wut wieder einmal in mich hineinfressen oder was? Sodass es nur mir alleine schlecht geht?

1: Ich vermute, du hast das schon oft genug getan.

2: Was getan?

1: Na, die Wut in dich hineingefressen. Du hast mir doch gesagt, dass du bei deiner Freundin nur wegen einer lächerlichen Meinungsverschiedenheit ausgeflippt bist, oder?

2: Jetzt weiss ich, worauf du hinaus willst: Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlauf gebracht hat, willst du sagen. Damit hast du sicher recht. Weisst du, normalerweise lasse ich meiner Freundin viel durchgehen, denn ich bin kein aufbrausender Typ. Aber wenn sie einen immer wieder und wieder nervt, dann staut sich da schon etwas an.

1: Oh, daran ist nicht nur deine Freundin Schuld, denke ich.

2: Wie meist du das?

1: Ich glaube, Wut wird durch irgendwelche Stoffe im Körper erzeugt. Und denen ist es völlig Wurst, von wem sie aktiviert wurden. Es kommt nur auf das nötige Quantum an und dann - Rumms! Die Wut ist da.

2: Ja, die Wut, die in einem steckt, ist wenig zielgerichtet. Bei mir ist das zumindest so. Ich hatte letzte Woche ständig Ärger im Geschäft gehabt, weisst du? Mein Chef, dieser Mistkerl. Fixiert einen immerzu an und sucht nur nach einer Gelegenheit, dir die Stiefel aufzupumpen. Der reinste Stress sage ich dir. Und als dann noch gestern meine Freundin so komisch reagierte, als ich zu ihr kam, da ist mir wohl irgendwo der Geduldsfaden gerissen.

1: Wieder bist du ein Stück schlauer. Du weisst jetzt: Du warst ursprünglich nicht sauer auf deine Freundin, sondern auf dich, weil du deinem Chef deine Wut nicht hast zeigen können.

2: Stimmt. Aber hätte ich meinen Chef angebrüllt, dann sässe ich heute auf der Strasse.

1: Tja, stattdessen hast du deine Freundin angebrüllt und sitzt jetzt ebenfalls auf der Strasse. Ist das vielleicht besser?

2: Nein, verdammt! .... Verflixte Wut, verflixte!

1: Sei nicht wütend auf die Wut! Du hast bloss die archaische Hackordnung noch nicht überwunden, und da bist du nicht alleine. Die Wut selbst ist eher positiv zu sehen.

2: Na, das erkläre mir aber. Hackordnung? Wieso Hackordnung? Bin ich etwa ein verdammtes gackerndes Huhn oder was?

1: Im gewissen Sinne schon. Die Zivilisation ist doch nur eine dünne Hülle. Bei dir hier lag jedenfalls der klassische Hackordnungsfall vor: Der Chef hackt auf dir herum, du auf deiner Freundin, die vermutlich auf ihren kleinen Bruder, und der tritt zuletzt dem unschuldig dreinschauenden Hund vorm Kamin ins Hinterteil. Was meinst du, was passieren würde, wenn das jeder immer so machen würde?

2: Vermutlich gäbe es eine Menge hinkender Hunde.

1: Ha, ha! Die gibt es aber nicht, oder? Und zwar, weil Menschen Wut auch anders verarbeiten können, als sie einfach ungefiltert herauszulassen.

2: Das hast du also mit den positiven Seiten der Wut gemeint?

1: Ja. Wut ist doch eine elementare Energie im Menschen. Genauso wie die Triebe. Man kann sie umlenken und z.B. dazu benutzen, kreativ zu sein.

2: Mh ... man hört ja öfter von Künstlern, dass sie bestimmte Arbeiten wie Bücherschreiben nur deswegen machen, um so ihrer Wut im Bauch Herr zu werden.

1: Womit wir auch schon bei einer geeigneten Wuttherapie gelandet sind - dem Schreiben.

2: Schreiben?

1: Ja, schreib auf, was dich wütend macht. Wenn du danach immer noch wütend bist, schreib es gleich noch einmal auf. Und noch einmal. Wenn nötig, dann schreib es zehn Mal. Und du wirst sehen: Der Ton im Text wird immer milder, er wandelt sich zunehmend in Kritik. Und wenn du deine intellektuellen Fähigkeiten richtig anzapfst, sogar in konstruktive Kritik.

2: Da ist etwas Wahres dran. Ich habe früher Tagebuch geschrieben, um die täglichen Erfahrungen verarbeiten zu können. Warum also nicht auch die Wut? Das, was ich aufschreibe, muss ich ja nicht einmal dem zeigen, auf den ich wütend bin.

1: Das musst du zwar nicht, solltest du aber tun.

2: Meinst du?

1: Ja. Der andere soll ruhig wissen, dass du wütend warst. Du musst deine Position deutlich machen, sonst wird der andere - vielleicht in aller Unschuld - immer wieder deine Wut reizen.

2: Ja, aber ich habe doch gerade gesehen, was passiert, wenn man seine Wut zeigt - man wird achtkantig rausgeworfen.

1: Noch einmal: Du hast die Wut ungefiltert gezeigt. Ich spreche aber davon, sie z.B. einen Tag später in Form konstruktiver Kritik vorzutragen, wobei ein eigenes Teilschuldbekenntnis nicht fehlen sollte. An einem Streit sind in der Regel schliesslich immer mindestens zwei schuld.

2: Trotzdem - gehe ich damit nicht ein ziemliches Risiko ein. Ich gebe ja zu erkennen, dass ich verletzt wurde, ja, dass ich überhaupt verletzbar bin. Das könnte doch jemand gegen mich ausnutzen.

1: Da musst du Vertrauen zeigen, und das wird der andere zu würdigen wissen, glaube ich. Genauso wie er konstruktive Kritik zu würdigen weiss. Denn er wird anerkennen müssen, dass sich hier jemand Gedanken über ihn gemacht hat, die helfen können, in Zukunft Konflikte zu vermeiden. Im Grunde sind die meisten Menschen auf Harmonie aus.

2: Na, das hört sich aber reichlich idealistisch an. Vermutlich würde mein Chef konstruktive Kritik eher zum Anlass nehmen, mir meinen Lohnzettel um die Ohren zu schlagen und mich zum Teufel zu scheren, als mir die Hand zu schütteln und mir 'n Bruderkuss zu verpassen.

1: Nun, in diesem Fall sollte man die Konsequenzen ziehen - dieser Chef hätte dich dann eindeutig nicht verdient. Du müsstest dich dann zwar nach einer anderen Arbeit umsehen, aber so viel sollte man sich schon selbst Wert sein. Denn dauernde Wut, das führt zu Magengeschwüren.

2: Da hast du recht. Meines wächst schon fast zum Hals raus.

1: Du weisst jetzt also: Wenn du Wut hast, dann lass sie nicht gleich raus, sondern verarbeite sie zuerst in Form von einem Brief oder Briefen, die man zur konstruktiven Kritik ausarbeitet, die dann dem Wuterzeuger am nächsten Tag in aller Ruhe und nüchternem Tonfall vorgetragen wird.

2: Prima Tip. Ein Problem bleibt da aber noch bestehen: Wenn ich so richtig wütend bin, schaltet sich bei mir das Hirn aus, weisst du? Da kann ich nicht ruhig weggehen und alles auf 'n Blatt Papier schreiben, was mich auf Touren bringt - lieber will ich platzen wie eine volle Milchtüte, die man fallen lässt.

1: Das passiert nur dann, wenn du vorher über längere Zeit Wut in dich hineingefressen hast. Du musst daher bei jedem kleinen Wutgefühl sofort damit anfangen, es in Form konstruktiver Kritik zu verarbeiten.

2: Jedes Mal muss ich das machen?

1: Anders geht es nicht. Hineinfressen heisst anstauen. Anstauen heisst, der Staudamm kann brechen. Und dies zuzulassen heisst, der Wut das Ruder in die Hand zu geben.

2: Aber manchmal merkt man gar nicht richtig, dass man wütend geworden ist. Oder man kann selbst nicht verstehen, warum man eigentlich wütend wurde. Wie soll man denn diese Art von Wut verarbeiten können?

1: Dazu müssen wir erst einmal aufschlüsseln, was Wut überhaupt ist. Oder besser: Was verursacht Wut?

2: Ja, was verursacht Wut? Gute Frage. Kennst du die Antwort?

1: Die Psychologie sagt, dass dem Wutgefühl, also der Aggression, stets ein Gefühl der Frustration vorangeht.

2: Ein Gefühl der Frustration?

1: Ja. Und wann ist man frustriert? Mh?

2: Mh ... man ist frustriert, man ist frustriert ... wenn man etwas haben will und nicht bekommen kann, oder?

1: Richtig. Frustration ist die Folge des Erkennens eines Mangels. Man ist frustriert, wenn ein Bedürfnis nicht erfüllt wird.

2: Also gut, dann sieht das folgendermassen aus: Ich habe Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden. Das heisst, ich werde frustriert. Und wenn ich lange genug frustriert bin, habe ich es satt und werde wütend.

1: Ja. Oder ich resigniere, d.h. ich akzeptiere, dass ich nicht alle Wünsche erreichen kann. Das ist die Alternative zur Aggression. Und resignieren - das muss jeder im Laufe seinen Lebens immer wieder tun. Aber er sollte es nicht zu oft oder sogar immer tun, manchmal muss er wütend werden. Und dann offenbart die Wut ihr potenziell positives Potenzial.

2: Richtig: Wer immer resigniert, wird zum Nichts. Manchmal muss man sich auf die Hinterbeine stellen, um die Zähne zu zeigen, um also die eigene Position den anderen klarzumachen.

1: Aber eben auch nicht immer, wie bereits gesagt. Denn nicht alle Ziele sind erreichbar. Und dominiert trotzdem einmal die Wut, dann sollte man auch diese nicht offen zeigen, ebenfalls wie bereits gesagt. Eine Nacht darüber schlafen ist fast immer besser. Wut produziert nur Gegenwut. Und zwei Wütende führen auch nur zwei Simplex-Gespräche, die paradoxerweise doch bloss der eigene Sender hört.

2: Gut. Wir wollen also die Wut verarbeiten, die aus der Frustration folgt, die aus der Bedürfnis-Nichterfüllung folgt. Was sind nun aber Bedürfnisse? Woher kommen diese? Woran erkenne ich sie? Das haben wir noch nicht geklärt.

1: Die letzte Frage ist am einfachsten zu beantworten: Bedürfnisse erkennt man am besten dann, wenn sie nicht erfüllt werden, denn dann entsteht ein Gefühl der Enttäuschung, das man registrieren kann.

2: Mit anderen Worten: wann immer ich Enttäuschung verspüre, dann wird ein Bedürfnis nicht erfüllt, richtig? Ich muss also nur herausbekommen, was das Bedürfnis ist, das da eben nicht erfüllt wurde, um es genau bestimmen zu können.

1: So ist es, mein Freund, so ist es. Jeder Enttäuschung sollte eine Bedürfnissuche folgen, nur so lernt man seine unbewussten Bedürfnisse zu erkennen.

2: Schön. Woher kommen jetzt aber meine Bedürfnisse? Ich meine, fangen wir doch einmal ganz von vorne an: ich werde geboren und da bin ich noch so richtig wunschlos glücklich. Wie geht es dann weiter?

1: Deine Annahme ist falsch. Ein Baby ist nach der Geburt keineswegs wunschlos glücklich? Es hat Bedürfnisse, und sogar ziemlich ausgeprägte. Diese Bedürfnisse sind ihm angeboren, sie sind von vorneherein ...

2: Ja, klar. Ein Baby hat Hunger, es braucht die Wärme der Mutter usw. Diese Bedürfnisse bekommt es natürlich gleich mit auf die Welt, sonst könnte es wohl auch kaum je ein graues Haar bekommen, was?

1: Genau. Diese Bedürfnisse sind von Natur aus da und werden durch die zahlreichen Hormone aus den verschiedenen Körperdrüsen gesteuert. Die gesamte Triebstruktur gehört hier dazu, v.a. auch der Sexualtrieb. Bei letzterem gilt die Kausalkette: bekommt der erwachsene Mensch längere Zeit keinen Sex, dann wird er frustriert, was zur Folge hat, dass er entweder jedes Interesse am Sex verliert, also resigniert, oder andere Formen der Befriedigung sucht, seien sie nun autonom oder aggressiv.

2: Nun, gestern habe ich aber keinen Sex von meiner Freundin gewollt, als ich sie angeschnauzt habe. D.h. diesen Bedürfnismangel habe ich nicht empfunden. Und ich war auch nicht hungrig. Sie muss also irgendein Bedürfnis nicht befriedigt haben, das nichts primär mit den Trieben zu tun hat.

1: Nun ja, letztlich hat vermutlich alles irgendwo mit den Trieben zu tun. Warum gehen wir denn soziale Beziehungen ein, wenn nicht aufgrund unsere Sexualtriebes und/oder Lebenserhaltungstriebes? Aber du hast recht: so primär melden die Triebe nur selten ihre Bedürfnisse an. Ich vermute daher vielmehr, dass deine Freundin gestern ein von dir gelerntes Bedürfnis nicht erfüllt hat.

2: Ein gelerntes Bedürfnis? Lass mich nachdenken. Mh ... ich war sauer auf meinen Chef und sie hat dann zu Hause etwas Komisches zu mir gesagt ... Ja, vermutlich hatte ich das Bedürfnis, mich an ihrer Schulter ... nun, auszuweinen oder etwas in der Art.

1: So stell ich mir das auch vor. Unterstützung bekommen. Ein typisches Bedürfnis, dass man durch eine Partnerschaft zu befriedigen hofft. Als es bei dir nicht eintrat, warst du frustriert. Wiedereinmal. Und du resigniertest in diesem Fall nicht, sondern wurdest wütend.

2: So etwas Blödes. Wenn ich das vorher gewusst hätte. Ich meine, ich wusste gestern, dass irgendetwas nicht so wahr, wie es sein sollte oder ich es erwartet habe. Aber das ich nur etwas Trost gesucht habe ... Auf diese Idee bin ich überhaupt nicht gekommen.

1: Daher muss man frühzeitig und immer wieder lernen, seine Gefühle zu interpretieren. Wenn man dies nicht macht, weil man z.B. lieber gleich wütend wird, dann lernt man nur eines: wütend sein. Das hinterlässt auf Dauer Abdrücke in den Neuronen des Gehirns. In gleichen Situationen macht es dann bald jedes Mal wieder "klick" - und die entsprechenden Neuronen schwirren in höchster Resonanz.

2: Du meinst, Wut ist so eine Art Gewohnheitssache. Einmal wütend, immer wütend?

1: Nein. Oft wütend, immer wütend. Einmal wütend, selten wütend. Je öfter wütend, umso breiter wird die Neuronenbahn im Hirn, die für die Wut verantwortlich ist, und umso dicker wird ihre schützende Myelinscheide. Die Wut ist dann so fest programmiert wie in einem Computer. Und nur noch sehr schwer sich abzugewöhnen.

2: Ich sehe es ja ein: Wut als Regel ist gequirlte ... ist nicht gut für mich. Aber diese gelernten Bedürfnisse, von denen du vorhin gesprochen hast. Wie komme ich eigentlich zu denen? Oder woher kommt ganz konkret diese meine Erwartung, dass eine Partner mich unterstützen sollte, wenn ich Probleme habe?

1: Nun, die Triebe bilden die Basis für unsere Bedürfnisse. Wie man diese triebhaften Bedürfnisse erfüllen kann, das lernt man mit der Zeit durch Erfahrung, durch Kommunikation mit anderen, durch Lesen von Büchern usw. Man übernimmt dabei automatisch die Werte der Gesellschaft und bildet aus diesen ein eigenes persönliches Weltanschauungssystem. Dieses bestimmt dann die Normen, die für einen Gültigkeit haben, und auch das Rollenverhalten, das man erwartet oder sich selbst auferlegt.

2: Ich verstehe. Dann hätten wir ja die ganze Kausalkette der Wut beisammen, oder?

1: Ja.

2: Zählen wir doch noch einmal alles auf, okay?

1: In Ordnung.

2: Also, am Anfang wird man geboren. Von Geburt an besitzt man Bedürfnisse, die durch die Hormone angeregt werden, die wiederum von den Trieben dosiert werden. Solche Bedürfnisse sind Hunger, Sex und Überlebensfähigkeit.

1: Wird man älter, dann reichert man sein Wissen um Erfahrungen an, die helfen sollen, die primären Triebe zu erfüllen. Man bildet eine Weltsicht, die sinnvollerweise mit den Werten der Gesellschaft harmoniert, zumindest einigermassen. Diese Weltsicht bestimmt dann das, was man als Normen für sich akzeptiert und das Rollenverhalten, das man erwartet und selbst erfüllen will.

2: Wird eine Erwartung bzw. ein Bedürfnis nicht erfüllt, so kann man dies in Form von Enttäuschung erkennen. Es ist es wichtig, dass man bei solchen Gelegenheit in sich hineinhorcht, um seine Gefühle richtig interpretieren lernen zu können.

1: Wird ein angeborenes oder erlerntes Bedürfnis öfter nicht erfüllt, erwächst im Menschen ein Gefühl der Frustration.

2. Dieses Gefühl der Frustration gilt es frühzeitig als solches zu erkennen, bevor es in unkontrollierte Aggression umschlägt. Man sollte es schon vorher abbauen.

1: Und zwar in Form von leichter Resignation oder leichter Aggression, je nachdem wie der Fall gelagert ist. Ersterer Weg hilft einem, unerreichbare Ziele zu erkennen und zu akzeptieren, in dem man die eigene Weltsicht darauf anpasst. Der zweite Weg hilft einem, die eigene Position nach aussen hin zu vertreten und den Kommunikationspartnern die Gelegenheit zu geben, ihrerseits ihre Weltsicht zu ändern. Beide Wege haben ihre Berechtigung, keiner ist zu bevorzugen.

2: Wählt man jedoch den aggressiven Weg, so darf dies nicht in unkontrollierter Weise geschehen.

1: Vor allem, weil Wut sich in einem ansammeln kann und dann nicht mehr zielgerichtet, d.h. auf den Verursacher gerichtet ist, und also einen Unschuldigen treffen kann. Am ehesten wird die Ansammlung von Wut verhindert, indem die Frustration so früh als möglich erkannt und verarbeitet wird.

2: Wie gesagt, wird die Frustration aggressiv verarbeitet, dann sollte ihrer Energie in Kreativitätsenergie transformiert werden. D.h., die Wut sollte nie nach aussen ungefiltert vorgetragen werden, es sei denn, es ist von hervorragender Bedeutung, z.B. um zu überleben. Die Kreativitätsenergie hilft einem, die Wut künstlerisch, insbesondere schriftlich, verarbeiten zu können.

1: Je nach intellektuellen Fähigkeiten entwickelt man eine konstruktive Kritik, die man dann am nächsten Tag - nicht sofort, weil man dann noch voller nicht-transformierter Wutenergie steckt - vorgetragen werden. Eine Nacht drüber schlafen hilft dem Wütenden, die momentane Aggression abzubauen und die Sache ruhiger anzugehen.

2: Es ist dazu aber unbedingt nötig, dass man dem anderen, auf den man wütend war oder ist, Vertrauen entgegenbringt. Schliesslich gibt man sich dem anderen als verletzlich zu erkennen, wenn man ihm sagt, dass man wütend gewesen ist.

2: Nutzt der andere daraufhin dieses Vertrauen aus, dann ist er der Kommunikation nicht länger würdig. Ist er somit unwichtig geworden, dann kann er auch keine Wut in einem erzeugen.

1: Ansonsten weiss der andere die konstruktive Kritik zu schätzen - so sollte es zumindest sein, hilft sie ihm doch, etwas Neues über sich selbst zu erfahren. Ausserdem erleichtert die Kritik es ihm, mit dem anderen in Zukunft zu kommunizieren, da dieser seine Position deutlich gemacht hat. Ironische Sticheleien bleiben vielleicht selten aus, diese können jedoch auch gut helfen, dass Thema, um den sich der Konflikt drehte, mit der Zeit etwas entkrampfter zu sehen.

2: Okay. Das war es. So spielt sich das also ab mit der Wut und so lässt sie sich nutzbringend kanalisieren. Die Wut ist also eine erstaunlich positive Kraft im Menschen, wenn man sie nur richtig einzusetzen weiss.

1: Genau. Und ich hoffe, du hast diese Lektion auch für dich gelernt.

2: Klar. Ich denke schon. Ich werde gleich zu meiner Freundin gehen und mich bei ihr für mein Verhalten von gestern entschuldigen.

1: Prima.

2: Das Beste ist: das wird sogar ein Kinderspiel. Denn ich weiss ja jetzt, dass ich nur sauer auf sie war, weil sie ein Bedürfnis von mir nicht befriedigt hat: ein Trostbedürfnis - ein Bedürfnis, das in dieser Form nur ein einziger Mensch befriedigen kann, nämlich sie. Ich denke, das wird ihr gefallen. Das macht sie schliesslich zu etwas Einzigartigem für mich, nicht wahr?

1: Sicher.

2: Ha! Sie wird geradezu begeistert sein. Nicht zuletzt deswegen, weil ich ihr damit zeige, wie sehr ich abhängig von ihr bin.

1: Tja, vertrauen muss eben da sein bei einer Partnerschaft, wie gesagt. Und sie wird sich deines Vertrauens würdig erweisen müssen.

2: Das wird sie, da bin ich mir ganz sicher. Gut, alter Freund ... Also, ich gehe jetzt gleich zu ihr. Und tschüs dann, und danke für deine Tipps.

1: Bitte, gerne geschehen.