Evolutionäres Management
Geschwurbel von Daniel Schwamm (23.05.1995 bis 24.05.1994)
Inhalt
Erfolgsstorys von Organisationen, wie etwa die Divisionalisierung
von DuPont, die Fliessbandarbeit bei Ford und die Lean Production des
Toyota-Chefs Taiichi Ohno, beruhen alle auf einem rationalen
Reorganisationsprozess. Die Manager gingen nach einem genauen Plan, einer
genauen Strategie vor. Aber diese Möglichkeit ist nicht immer gegeben.
Häufig verlangt die Dynamik der Umwelt nach einer innovativen Lösung
und nach keiner weiteren Detaillierung des bestehenden Systems. Das in
Rationalität festgefahrene Management ist oftmals nicht fähig,
Innovationen zu erzeugen. Aus diesem Grund empfehlen einige
Organisationstheoretiker das evolutionäre Management, bei dem keine
klaren Ziele vorgegeben werden. Stattdessen wird hier der Manager dazu
aufgefordert, nur bestimmte Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine
Unternehmensevolution oder eine Selbstorganisation begünstigen, die dann
innovative Wege einschlagen kann. Sehen wir uns dazu zwei Ansätze an.
Der St. Galler Ansatz von Malik, Probst und Dyllick behauptet, dass
Verhaltensregeln nicht von geplanten Vorgaben dominiert werden, sondern vielmehr
in einem Prozess der "Spontanen Ordnung" entstehen. Sie sind ein Produkt der
Evolution, nicht des rationalen Geistes.
Sie rühren von Interaktionsprozessen zwischen Individuen her, die in allen
sozialen Systemen gegeben sind, die daher auch alle zu einer Selbstorganisation
fähig sind. Nur dadurch, dass sie der Komplexität der
Umweltdynamik mit der der Komplexität der Selbstorganisation begegnen,
schaffen sie es, die nötige Variation hervorzubringen, die ein
Überleben auf Dauer erst garantiert.
Der St. Galler Ansatz sieht die Komplexität in der
Organisation nicht als zu bekämpfenden Feind an, sondern vielmehr als
existenzielle Notwendigkeit. Das evolutionäre Management verfährt
hier also genau entgegengesetzt zu Organisationstheorien, die durch Planung und
Strategien die Komplexität gerade minimieren wollen, wie z.B. der
Taylorismus oder der situative Ansatz.
Das Management nach dem St. Galler Ansatz muss Respekt
haben vor dem gegebenen, funktionierenden System. Grosse, umgreifende
Änderungen sind nicht sein Ding. Daher weiss der Manager auch stets
um die Vorläufigkeit seiner Entscheidungen, da er nie alle Folgen rational
abschätzen kann. Die Organisationsstrukturen, die er gestaltet, sollen
keine exakten Wege vorschreiben, wie man sich in der Organisation zu verhalten
hat, sondern sollen nur Interpretationsgrenzen nach oben und unten sein, wie
die durch die Komplexität hervorgerufene Varietät des Handelns in
bestimmte Richtungen kanalisiert werden kann.
Wie der St. Galler Ansatz glaubt auch der Münchner Ansatz von Werner Kirsch,
dass die Evolution der Organisation aufgrund der
Komplexität der Umwelt grundsätzlich nicht rational beherrschbar ist.
Der Interessenpluralismus, der in den Organisationen zwischen den Abteilungen
herrscht, ist z.B. durch ein Schnittstellen-Management nicht zu lösen.
Statt des Diktats "von oben", empfiehlt der St. Galler Ansatz daher die
Gestaltung der Strukturen "von unten". Die Betroffenen sollen am
Reorganisationsprozess beteiligt werden. Dies bedeutet, dass die
Wünsche, Ziele und Bedürfnisse der Betroffenen vom Management
dynamisch zu definieren und zu berücksichtigen sind. Nur so kann der
Komplexität der Umwelt durch Komplexität des Organisierens begegnet
werden, und dabei ein Fortschritt - das eigentliche Ziel des Münchner
Ansatzes - erreicht werden.
Die Beteiligung der Betroffenen relativiert die Strategien und
Plänen des Managements. Durch Abstimmungsprozesse und kommunikativem
Handeln gelangt man zu einem Ergebnis, dessen Rationalität - eine
intersubjektive Rationalität - oftmals erst im Nachhinein im Handeln
erkennbar ist. Der Manager ist dabei nur derjenige, der den
Selbstorganisationsprozess anstösst, indem er in Interaktion mit
einem Betroffenen tritt, der dann wieder anderer motiviert usw.,
bis der Schneeball ins Rollen kommt.
Wie beim St. Galler Ansatz soll auch im Münchner-Ansatz
die fremd organisierte (also von den Managern rational geschaffene)
Organisationsstruktur nur einen Spielraum aufzeigen, innerhalb der der
Prozess der Selbstorganisation ablaufen soll. Dadurch soll nicht die
Komplexität der Lösungen gemildert werden, sondern diese nur in eine
bestimmte, den Unternehmenszielen entsprechendere Richtung, gelenkt werden.
Es sei folgendes Organisationsproblem gegeben: Ein mittelständisches
Unternehmen mit ca. 500 Mitarbeitern stellt die beiden Produktgruppe A und B her.
Es ist funktional organisiert. Für jede Produktgruppe existieren jeweils eine
Produktionsabteilung und eine Entwicklungsabteilung.
Allerdings besitzt das Unternehmen nur eine Vertriebsabteilung, was zu Problemen
führte, da die Märkte der beiden Produktgruppen zu unterschiedlich
sind. Die Aussendienstler und Marketingspezialisten z.B. können
jeweils nur eine Produktgruppe vertreten, und die Leitung muss sich mehr
mit dem operativen Geschäft herumschlagen, als dass sie produktspezifische
Strategien entwickeln könnten.
Die rationale Betrachtung des Gestaltungsproblems nach dem konventionellen Vorgehen
liefert uns hierzu drei Gestaltungsalternativen:
- Eine funktionale Struktur mit zwei Vertriebsabteilungen.
- Eine funktionale Struktur, die von einer Matrixorganisation überlagert wird.
- Eine divisionale Struktur mit getrennten Produktgruppen-Divisionen.
Nach dem konventionellem Vorgehen mit Gewichtung und Präferenzsetzung würde
vermutlich die Lösung (3) die Oberhand gewinnen. Divisionale Strukturen sind
"modern" und sie machen die Organisation übersichtlicher, denn sie nehmen ihr
etwas von ihrer Komplexität. Weitere Fragen, die danach zu klären wären, sind:
Was wird den Divisionen, was der Zentrale zugeordnet? Wird der Leistungsaustausch
zwischen den Abteilungen geplant oder über Verrechnungspreise initiiert? Welche
Personen werden in welcher Division untergebracht?
Antworten auf diese Fragen können über rationale Methoden, die die
Organisationsliteratur durchaus bietet, gefunden werden. Auch das
konventionelle Management weiss inzwischen, dass eine Beteiligung der
Betroffenen Akzeptanz fördernd wirkt. Dies ist insbesondere nötig, da
z.B. die Aussendienstler vermutlich mit der Lösung (1) zufriedener
gewesen wären, weil dieses Vorgehen eine geringere Änderung des Status quo
bedeutet hätte. Das konventionelle Management ist auch typischerweise nie so
sehr von sich überzeugt, als dass es glaube, seine Lösungen seien von
vorneherein tadellos; mit nachträglichen Veränderungen rechnet es allemal.
Der St. Galler Ansatz propagiert den Respekt vor dem bestehenden System,
er sucht also nach einer Lösung, die den Status quo weitgehend erhält.
Die Vertreter des St. Galler Ansatzes wählen daher sicher am ehesten
Lösung (1). Die funktionale Struktur wird beibehalten und nur eine zweite
Vertriebsabteilung angeschlossen. Da die Ergebnisorientierung beim St. Galler
Ansatz weniger ausgeprägt ist als bei der konventionellen Vorgehensweise,
und stattdessen die Prozessorientierung dominiert, werden die Betroffenen
verstärkt an der Reorganisation beteiligt. Die Organisatoren spielen dabei
die Rolle der Facilitatoren (Unterstützer) der Betroffenen, was aber nicht
bedeutet, dass sie nicht auch manipulativ vorgehen.
Wie wir sehen, erzeugt das Vorgehen nach dem St. Galler Ansatz nicht unbedingt
eine bessere oder auch nur andere Lösung als die konventionelle Vorgehensweise.
Der St. aller Ansatz scheut sogar eher vor grundsätzlich neuen Lösungen zurück,
da diese ja das bestehende System "respektlos" behandeln würden. Die
Selbstorganisation wird zwar explizit empfohlen, doch in der Praxis werden sich
die Manager wohl kaum das Zepter aus der Hand nehmen lassen.
Das kommunikative Handeln ist das Schlüsselkonzept des
Münchner Ansatzes. Statt formalen Regeln zu folgen, stimmen sich die
Handelnden untereinander jedes Mal ab, damit jeder seine Aufgabe findet und
löst. Die Kommunikation zieht dabei weite Kreise, sodass der
"handelnde Schneeball" sehr gross werden kann. Doch dieses
verständigungsorientierte Handeln befindet sich im Spannungsfeld zu den
Organisationsstrukturen, die ja gerade die Effizienz des Handelns steigern
sollen, indem sie Regeln vorgeben, um so die Kommunikation zu minimieren, und
die zudem die Entscheider oben in der Hierarchie anzusiedeln, um so den
"handelnden Schneeball" möglichst klein zu halten.
Kirsch und die Organisationsstrukturen, das verträgt sich
nicht. Der kommunikative Weg fördert evtl. neue Lösungswege, doch er
ist viel zu zeitraubend, um praktikabel zu sein. Viel einfacher ist es doch,
auf bekannte Probleme bereits bekannte Lösungen anzuwenden. So muss
u.U.zur Lösung eines Problems nur eine Wahl zwischen drei alternativen
Software-Produkten getroffen werden, statt - wie es der Münchner Ansatz gerne
hätte - erst lange auszudiskutieren, ob eine Software-Lösung überhaupt
sinnvoll ist. Auch wenn Kirsch dies nicht wahrhaben wollte, so sind doch eine
Reihe von Problemen in Organisationen wohlstrukturiert und rational angehbar.
Bei nicht-strukturierten Problemen, wie z.B. unserem Gestaltungsproblem,
liegt Kirsch dagegen richtig: Zusatzorganisationen wie
Zirkel, Seminare u.ä. geben Kommunikationskanäle vor, die helfen, die
Komplexität des Handelns durch Kommunikation - und nicht durch geplante
Rationalität - abzufangen. Dass diese Kommunikation allerdings von
Nicht-Rationalität dominiert sein sollte, wie Kirsch fordert, erscheint
reichlich unvernünftig.
Wie schon beim St. Galler Ansatz bewirkt also auch das
Management nach Kirsch keine grundsätzlich neuen Lösungen, zumal sich
der reine Münchner Ansatz kaum je so realisieren lässt. Zu sehr
läuft er gegen die Organisationsstrukturen und zu sehr pocht er auf
Irrationalität. Im Grunde lässt sich gar nicht vorhersagen, wie
ein Management entscheidet, welches die Lehren von Kirsch vollständig
ernst nimmt, weil dort ja jede strategische Komponente fehlt.
Das Konzept der "spontanen Ordnung" behauptet, dass sich
individuelles Verhalten nicht durch rationale Regeln bildet, sondern vielmehr
durch Interaktionsprozesse, die durchaus auch von Irrationalität getragen
sein können. So kann es z.B. passieren, dass Menschen ihr Handeln
nach dem Kaffeesatz richten. Und auch der Regentanz ist eine evolutionär
gewachsene Verhaltensweise, die kaum je die Wirkung hervorruft, für die
sie eigentlich gedacht ist.
Warum bevorzugt nun die evolutionäre Managementtheorie
diese spontane Regelevolution gegenüber der rational geplanten
Regelgestaltung? Das "Evolutionäre" daran impliziert ja, dass sich
diese Regeln langfristig bewährt haben müssen, dass sie dem
System beim Überleben geholfen haben. Den Grund dafür sehen die
Evolutionstheoretiker in der erhöhten Varietät, die durch die
zusätzliche Komplexität der spontanen Regeln mit in das System
einfliesst.
Diese Varietät ist in einer dynamischen Umwelt sicherlich
förderlich, ob sich jedoch durch spontane Ordnung neue
Organisationsstrukturen finden lassen, mag bezweifelt werden. In der Praxis
kann das Konzept der Selbstorganisation also allenfalls innerhalb von
Organisationseinheiten wie Abteilungen oder Arbeitsgruppen einen Stellenwert
besitzen; die Fremdorganisation verdrängen sollten sie jedoch in keinem
Falle.
Sehen wir uns die Praxis an. Dort lassen sich zwei Arten von
Selbstorganisation finden, die (1) Selbstkoordination und die (2)
Selbststrukturierung. In beiden Fällen muss gesagt werden, dass
erst fremdgesteuerte Massnahmen an den Organisationsstrukturen
dafür sorgen, dass sich (1) und (2) in der Praxis verwenden lassen.
Ohne formal fixierte Dezentralisierung würde z.B. sicher kein Manager
Fertigungsinseln akzeptieren, die sich weitgehend selbst koordinieren.
Auch die Stellenaufgaben sind an die Selbstorganisation anzupassen,
ebenso das Lohnsystem und die Vorgesetztenrolle vom Führer bis zum Berater.
Mit der Selbstorganisation ist es in der Praxis nicht
allzu weit her. Und dort, wo man sie finden kann - meist in der Form von
lateraler Koordination zwischen Abteilungen oder als autonome Fertigungsinseln
-, bedeutet sie in keinem Fall eine Minimierung der Fremdorganisation, sondern
nur eine Änderung der bestehenden Fremdorganisation. Und die
Lösungen, die die Selbstorganisation dabei letztlich zuwege bringt,
unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der Lösung, die auch eine
Fremdorganisation hervorgebracht hätte.
Der St. Galler Ansatz lässt sich gut in die Praxis
umsetzen, doch im Grunde läuft er nur auf eine Nicht-Änderung der
bestehenden Organisationsstrukturen hinaus. Der Münchner-Ansatz dagegen
lässt sich in der Praxis kaum realisieren, besonders weil er den
Organisationsstrukturen nicht angemessen ist, ja, ihren Intentionen gerade
zuwiderläuft. Das behauptete Potenzial der Selbstorganisation, neue
Lösungen hervorzubringen (und sich nicht nur der Umwelt anzupassen!),
konnte nicht bestätigt werden; die Kreativität wurde nicht
gesteigert. Allerdings kann vermutet werden, dass die stärkere
Beteiligung der Betroffenen beim evolutionären Management, der Aufruf zur
Selbstorganisation und die Orientierung am Prozess und nicht nur an dem
Ergebnis, die Akzeptanz organisatorischer Massnahmen und damit auch die
Arbeitszufriedenheit erhöhen kann.