Die Problematik der Personalbeurteilung

Geschwurbel von Daniel Schwamm (27.04.1994)

Inhalt

1. Einführung

Personalbeurteilungssysteme (PBS) sind in Betrieben sehr verbreitet. Und gerade grosse Unternehmen wollen auf dieses personalpolitische Instrument nicht verzichten, denn es bietet offenkundig eine Menge Vorteile:

  • PBS dienen der Bestandsaufnahme des Mitarbeiterpotenzials.
  • PBS helfen bei der Analyse des Ausbildungsbedarfs.
  • PBS erleichtern die Entgeltpolitik (Prämien, Zulagen u.ä.)
  • PBS geben Orientierungsstandards für den Soll-Arbeiter vor.
  • PBS-Ergebnisse können von den Beurteilten als Feedback verstanden werden.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein. PBS scheinen die Qualitäten einer "eierlegenden Wollmilchsau" zu überbieten. Jedoch wird häufig übersehen, dass die PBS auch (ungewollte) Nebeneffekte hervorrufen:

  • Sie beunruhigen die Beurteilten.
  • Sie rufen Konkurrenz zwischen den Beurteilten hervor.
  • Sie motivieren die Beurteilten zur Schönfärberei (nicht zur Kritik).
  • Sie bedeuten einen gewaltigen Papierkrieg für Vorgesetzte.
  • Sie werden häufig machtpolitisch missbraucht.

Eine Kritik an PBS ist schwer, einfach deswegen, weil es so viele verschiedene Varianten davon gibt. Entweder können die Vorgesetzten ihre Angestellten über freie Formulierung, über einen strukturierten Fragebogen (die Fragen/Antworten sind vorgegeben) oder über ein Einstufungsverfahren beurteilen. Unsere Kritik in dieser Arbeit bezieht sich v.a. auf letztere Variante, da diese die weitaus häufigste Form der Personalbeurteilung darstellt. Hierbei werden die Beurteilungsmerkmale vorgegeben und müssen vom Vorgesetzten nur noch graduell angegeben werden.

2. Urteilsbildung durch die Vorgesetzten

Die PBS sehen vor, dass ein Vorgesetzter A seinen Mitarbeiter B beurteilt und ein Vorgesetzter C seinen Mitarbeiter D. Danach sollen dann nach der Philosophie von PBS Aussagen über die Leistungsmerkmale von Mitarbeiter B im Vergleich zu Mitarbeiter D möglich sein. Dass dies nicht ganz so einfach ist, wie es sich anhört, wird in den folgenden Abschnitten diskutiert werden.

2.1. Massstabs- und Bezugssystemgleichheit

Die Beurteilung von Mitarbeitern durch einen Vorgesetzten hängt im hohen Masse von dem Vorgesetzten selbst ab. Ist er in seiner Umgebung nur hervorragend ausgebildete Mitarbeiter gewöhnt, dann wird er einen durchschnittlichen Mitarbeiter sicherlich schlechter beurteilen, als dies ein Vorgesetzter machen würde, der nur mit absoluten Neulingen zu tun hat. D.h., ein und derselbe Mitarbeiter wird von unterschiedlichen Vorgesetzten unterschiedlich beurteilt. Wo bleibt da die Objektivität?

Schwieriger wird es noch, wenn verschiedene Mitarbeiter miteinander verglichen werden sollen, denn dies setzte einen vergleichbaren, einen äquivalenten Arbeitsplatz voraus. Doch davon sind i.d.R. in einer Organisation nicht viele gegeben, sodass die Grundgesamtheit der Erhebung notgedrungen sehr klein ausfällt. In solchen Fällen jedoch regiert der Zufall sehr stark, sodass sich kaum ein "objektiver" Leistungsstandard daraus ermitteln lässt.

Weitere Schwierigkeiten mit den Einstufungsbögen sind:

  • Die Antworten sind vorgegeben, können mitunter also die Realität erzwingen.
  • Durch Manipulationen will jeder Vorgesetzte eine Normalverteilung erreichen.
  • Wenn alle besser wurden, ändert sich nichts an den PBS-Ergebnissen.
  • Höhere Vorgesetzte korrigieren PBS-Ergebnisse nachträglich in ihrem Sinn.
  • Ja/Nein-Skalen sind zu grob, über 10 Stufungen zu fein.

2.2. Urteilstaktiken

Bisher sind wir davon ausgegangen, dass sich die Vorgesetzten bemühen, eine relativ objektive Beurteilung der Mitarbeiter abzugeben, wenn sie auch häufig dazu tendieren, wenigstens das Gesamtergebnis der PBS-Ergebnisse normal verteilt zu gestalten. Doch leider sieht die Praxis anders aus. Nur zu oft neigen Vorgesetzte dazu, die Personalbeurteilung als machtpolitisches Instrument zu gebrauchen: Mit ihr können sie bestimmten Mitarbeitern "vor den Bug schiessen" oder andere durch eine gute Benotung zu einer Leistungssteigerung motivieren. Diese Urteilstaktiken hängen in hohem Masse davon ab, was ein Vorgesetzter von einzelnen Mitarbeitern persönlich hält, ist also deutlich subjektiv geprägt. Auch dadurch wird eine Vergleichbarkeit mit anderen Mitarbeitern eingeschränkt.

2.3. Beurteilungsmerkmale

Die Auswahl und Beurteilung von Beurteilungsmerkmalen ist mit zahlreichen Problemen verbunden. Das fängt schon mit der Anzahl an: Auf wie viel Merkmale hin sollen die Mitarbeiter beurteilt werden? Psychologen haben festgestellt, dass bei über 10 Beurteilungsmerkmalen die Vorgesetzten Probleme haben, die einzelnen Merkmale voneinander abzugrenzen. Daher gilt hier als Ideal: Es werden fünf Leistungsmerkmale (z.B. Belastbarkeit) und fünf soziale Merkmale (z.B. Zivilcourage) beurteilt. In der Realität werden aber mitunter Fragebögen mit über 40 Merkmalen benutzt, bei denen dann der Halo-Effekt (die Merkmalsausprägungen korrelieren stark untereinander) gravierende Ausmasse annimmt.

I.d.R. werden auf Personalbeurteilungsbögen für alle Mitarbeiter die gleichen Beurteilungsmerkmale aufgeführt. Doch dies ist in sofern wenig sinnvoll, als einzelne Merkmale von der Situation abhängen, in der sich der Beurteilte befindet. So wird es jemand mit einem stark formalisierten Bürojob schwer haben, von seinem Vorgesetzten als kreativ beurteilt zu werden - auch wenn er dies im hohen Masse sein sollte. Und selbst wenn er es nicht ist: Für seinen Beruf spielt Kreativität keine Rolle, sollte also auch nicht seine Beurteilung negativ beeinflussen können.

Manchmal finden in den Fragebögen auch zweidimensionale Beurteilungsmerkmale Verwendung wie z.B. "körperlich-seelische Belastbarkeit". Wenn nun ein Beurteilter körperlich belastbar, dafür aber seelisch wenig belastbar ist, wäre die korrekte Antwort bei einer Ja/Nein-Skala "Ja" und "Nein". Da dieser Fall nicht vorgesehen ist, muss sich der Vorgesetzte für eine Seite entscheiden, wodurch die Wahrheit in jedem Fall nicht getroffen wird.

Ein anderes Problem entsteht dadurch, das die Personalbeurteilungen in sehr grossem zeitlichen Abstand vorgenommen werden - bisweilen in Perioden von fünf Jahren Dauer. Hier bekommt der Vorgesetzte Probleme bei der Beurteilung eines Mitarbeiters, da dessen Leistung während dieses Zeitraums nicht unbedingt konstant war. Doch Antworten wie "War zwei Jahre gut, im dritten Jahr schlecht und im vierten und fünften Jahr sehr gut" sind nicht vorgesehen.

Oben wurde es bereits erwähnt: Die universelle Anwendbarkeit eines Fragebogens für alle Mitarbeiter ist sehr fragwürdig. Doch auch eine Abhilfe durch Muss- und Kann-Felder und Gewichtungsfaktoren bieten keine ausreichende Lösungen, sondern räumen dem Vorgesetzten nur noch mehr Manipulationsmöglichkeiten ein.

Zuletzt sei hier noch das Gesamtergebnis einer Beurteilung eines Mitarbeiters angegriffen. Dessen gesamtes Leistungspotenzial wird hier auf die eine Dimension "Wert für die Organisation" zusammengestaucht und als eine Ziffer ausgedrückt. Doch solche Zahlen sind nachträglich nur noch in vergleichbarer Weise interpretierbar, wenn u.a. die Gewichtung des Vorgesetzten bekannt ist. Doch so viel Mühe wird sich damit wohl kaum jemand in einer statistischen Auswertung geben (in sofern ist es hut, dass solche statistischen Auswertungen höchst selten erfolgen).

3. Gültigkeit von Personalbeurteilungen

3.1. Urteilsbegründung

Der erwähnte zeitliche Abstand zwischen den Personalbeurteilungen macht es einem Vorgesetzten nicht gerade einfach, sich an konkrete Vorfälle zu erinnern, die seine Beurteilung eines Mitarbeiters rechtfertigen. So kann er schnell in Beweisnot geraten und aus einer Mücke einen Elefanten machen, z.B. feststellen: "Dreimal zu spät gekommen? Dieser Mitarbeiter ist unpünktlich, asozial und wenig motiviert". Will er fairer sein, kommt er nicht umhin, sich während des Jahres Notizen zu machen. Doch das wiederum macht ihn unbeliebt bei seinen Mitarbeitern, die ihn der Führung Schwarzer Listen verdächtigen und in ihm einen kleinlichen Schnüffler sehen. Einen Ausweg könnte u.U. sein, statt Notizen einfach regelmässig Gespräche mit den Mitarbeitern bezüglich ihrer Leistung zu führen und sich danach ein Gesamtbild zu bilden.

3.2. Überprüfbarkeit

Wir fragen uns: Können Personalbeurteilungen irgendwie beweisen, dass ihre Ergebnisse bezüglich bestimmter Mitarbeiter gerechtfertigt sind? Dies ist u.U. wichtiger für Dritte, die ihre Entscheidungen auf diese Ergebnisse stützen, als für die Beurteilten selbst. Möglichkeiten zur Überprüfung gibt es dreierlei:

  1. Vergleich mit Selbstbeurteilung: Dies ist in sofern unfair, da hier Mitarbeiter mit Druckmitteln oder sprachliche Versiertheit im Vorteil sind, da sie ihre Beurteilung u.U. nachträglich verbessern können.
  2. Vergleich mit "objektiven" Daten: Fehlzeiten, Kundenäusserungen u.ä. können Aufschluss über einen Mitarbeiter geben. Doch wie kann festgestellt werden, in wieweit solche Vorfälle alleine dem Mitarbeiter zuzuschreiben sind? Auch der strebsamste, arbeitswütigste Arbeiter kann mal im Stau stecken bleiben.
  3. Vergleich mit Zweit-Beurteilungen: Die hier erhobenen Korrelationen in den Ergebnissen fallen so gering aus, dass der Verdacht naheliegt, dass die Personalbeurteilung mehr über einen Vorgesetzten aussagt als über dessen Personal.

Im Grunde war die obige Besprechung der Problematik der Überprüfbarkeit von Personalbeurteilungen witzlos, denn in der Praxis wird sie in dieser Form so gut wie nie durchgeführt, d.h., eine Validierung der Ergebnisse findet nicht statt (vermutlich, weil dadurch ihre Zweifelhaftigkeit allgemein offensichtlich werden würde).

4. Die Beziehung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern

Die Beziehung, die ein Vorgesetzter zu seinen Mitarbeitern unterhält, kann das Ergebnis einer Personalbeurteilung wesentlich beeinflussen. Das fängt schon damit an, wie ein Vorgesetzter die Personalbeurteilung bei seinen Mitarbeitern ankündigt. Will er beschwichtigen? Will er Panik machen? Distanziert er sich und schiebt die Schuld für eine potenzielle schlechte Beurteilung auf andere? Oder benutzt er in der Beurteilung eine Geheimsprache, um sich nicht rechtfertigen zu müssen?

Dadurch, dass Personalbeurteilungen in so grossen Abständen erfolgen, bekommen sie einen formalen und entscheidenden Charakter. "Jetzt kommt es darauf an!", sagen sich alle, und ein sturer Dienst nach Vorschrift ist die Folge. Jede spontane Kooperation entfällt, bewährte und tolerierte inoffizielle Wege werden nicht mehr begangen, Kritik wird heruntergeschluckt usw. So etwas tut keiner Organisation auf Dauer gut.

Besser ist es, wenn der Vorgesetzte die zu Beurteilenden sich selbst beurteilen lässt und dann mit dem seinen Ergebnis vergleicht. Sinnvoll ist es dann aber auch, den Mitarbeitern eine Schulung (z.B. der Gesprächsführung) zukommen zu lassen, die ihnen hierbei hilft.

Trotz der genannten Kritikpunkte sind die meisten Betroffenen zufrieden mit den Ergebnissen der Personalbeurteilung. Wir fragen uns: warum? Mögliche Gründe sind:

  • Fatalismus ("Was soll man dagegen tun?")
  • Erfahrung ("Es passiert ja ohnehin nichts weiter.")
  • Allgemeine Kritikschwäche ("Es wird schon richtig sein.")
  • Naiver Glaube an Wissenschaft und Objektivität.

5. Konsequenzen der Personalbeurteilung

5.1. Konsequenzen für die Beurteilten

Besonders gravierend bei der Personalbeurteilung für den Beurteilten ist, dass die Situation, in der er sich befindet (oder befunden hat), keine Berücksichtigung findet. So kann es passieren, dass er für etwas schuldig gesprochen wurde, was gar nicht in seinem Einflussbereich gestanden war. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Beurteilten ihre Ergebnisse nicht in bare Münze o.ä. umsetzen können (Ausnahmen gibt es, sind aber selten). Oft bleiben die Beurteilungen völlig folgenlos; sie wurden quasi nur für den Reisswolf produziert, da sie i.d.R. niemals systematisch ausgewertet werden. Daran wird deutlich, dass die PBS nur ein Instrument der Personalpolitik sind - und bei weiten nicht die wichtigsten. Daher ist auch ihr Wert als Feedback für die Beurteilten nur begrenzt. Allenfalls schaffen die PBS ein Kastensystem aus Beurteilungsunwürdigen, zu Beurteilenden und nicht Beurteilbaren, doch worin hier der Nutzen liegen soll, weiss wohl keiner so genau.

5.2. Konsequenzen für die Vorgesetzten

Die Personalbeurteilungen machen den Vorgesetzten eine Menge Arbeit, ruft Unsicherheit bei ihnen hervor ("Wie schneiden meine Leute im Vergleich zu andern ab? Wie werden meine Mitarbeiter reagieren?") und lässt sie nach Belohnungsmöglichkeiten für die Guten suchen, was aber auch Zwist und Neid hervorrufen kann. Möglicherweise müssen sie auch fürchten - und das ist fast das Schlimmste -, dass ihnen anhand ihrer Beurteilung die leistungsfähigsten Mitarbeiter von anderen entzogen werden. Belohnen sie also die Guten, schneiden sie sich u.U. ins eigene Fleisch.

5.3. Konsequenzen für das Personalbeurteilungssystem

Die Organisation und die Umwelt ändern sich laufend. Doch ändern sich auch die PBS im gleichen Masse? Meistens nicht, es sei denn, es werden immer wieder Schulungen für neue Personalbeurteilungsmethoden durchgeführt, die die Probleme der zu Beurteilten besser wiedergeben. Auch die Ziele der PBS können sich im Laufe der Zeit ändern, daher ist es wichtig, dass Schulungen nicht nur vor der Einführung eines PBS stattfinden, sondern auch noch periodisch danach.

6. Schluss

Nach all der Kritik scheint es sich um PBS tatsächlich um nichts anderes zu handeln, als um Unsinn mit Methode. Man muss sich also fragen, warum die PBS eine so grosse Verbreitung in den Organisationen geniessen. Die Antwort ist fast klar: Die PBS sind ein hervorragendes Mittel zur Machtausübung. Sie tragen den Mantel der Wissenschaftlichkeit und werden daher allgemein akzeptiert. Ihre Ergebnisse werden zwar i.d.R. nicht weiter verwendet, können aber u.U. bei unbequemen personalpolitischen Entscheidungen als Rechtfertigung dienen. Die eigentlichen Ziele der PBS werden hingegen kaum je erreicht.

Sind PBS generell abzulehnen? Oder gibt es Möglichkeiten, sie in sinnvollere Form zu bringen? Eine Möglichkeit der sinnvollen Nutzung von PBS wäre z.B., sie ausschliesslich individualisiert einzusetzen. D.h., die Beurteilungsbögen müssten auf die Situation bestimmter Mitarbeiter angepasst werden. Dadurch ginge zwar die Vergleichbarkeit mit anderen Mitarbeitern verloren, aber dies wäre gut so - die PBS sollten nämlich weniger dem Leistungsvergleich zwischen Mitarbeitern dienen, sondern stattdessen helfen, die Führung auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter hin auszurichten. Dazu ist es auch wichtig, dass die Beurteilungen weniger formalisiert und quasi ständig durch Gespräche mit dem zu Beurteilten durchgeführt werden. Nur unter diesen Umständen könnten die PBS vielleicht einen Daseinsgrund für sich beanspruchen, der nicht nur machtpolitischer Natur ist.