Perspektive in der Geschichte
Geschwurbel von Daniel Schwamm (20.08.1991 bis 21.08.1991)
Ein Dialog
1: Hast du dir je überlegt, ob der Mensch, so wie
wir ihn heute kennen, schon immer und zu allen Zeiten dreidimensional sehen
konnte?
2: Wie meinst du denn das?
1: Ich meine, es könnte doch sein, dass der
frühzeitliche Mensch noch nicht in der Lage war, räumlich zu sehen;
sein Gehirn war vielleicht noch nicht dafür 'programmiert'.
2: Du willst also behaupten, dass das
dreidimensionale Sehen eine erlernte Sache ist?
1: Nein, eine vererbte.
2: Na gut, vererbte, wie auch immer. Worauf
stützt sich denn diese deine Vermutung? Ich meine, wie kommst du auf so
eine abwegige Idee?
1: Nun, kurz und kompakt gesagt: durch die Handhabung
der Perspektive in der Geschichte der Kunst.
2: Die Perspektive ...?
1: In der Malerei, meine ich. Also den Versuch der
Künstler, in ein geschaffenes Gemälde Tiefe hineinzubekommen. Da kann
man ganz deutlich eine Entwicklung, eine Verbesserung beobachten.
2: Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinaus willst.
Die in Höhlen gefundenen Malereien von steinzeitlichen Menschen sind
flach, ohne Raum - wie aus einer 2-dimensionalen Welt. Heute dagegen ...
1: Halt nicht so schnell! Diese Entwicklung will ich
mir schon noch etwas genauer betrachten. Aber so weit hattest du schon einmal
recht: Die Bilder der Steinzeitmenschen sind tatsächlich noch ohne Raum.
Alles sieht so aus, wie aus der Natur genommen und an die Wand gepresst.
Eben platt. Flach.
2: Und du meinst nun, diese frühen Künstler
hätten die Bilder auf diese 'flache' Art und Weise produziert, weil sie es
eben so auch in Wirklichkeit sahen?
1: Exakt.
2: Na, ich weiss nicht ... Mir erscheint das
ziemlich weit hergeholt.
1: Zugegeben. Ich meine aber trotzdem, dass es
sich zumindest einmal lohnt, darüber nachzudenken. Denn: Wusstest
du zum Beispiel, dass ein Amazonas-Indianer, der so gut wie noch nie in
Kontakt mit der modernen Zivilisation getreten ist, mit einem
Schwarzweiss-Foto nichts anfangen kann?
2: Wie meinst du das?
1: Er erkennt es nicht als das, was es ist. Will sagen:
Er sieht nicht, dass das auf dem Foto ein Abbild der Natur ist.
2: Ehrlich?
1: Ehrlich. So hat es die Forscher zumindest
berichtet. Und warum sollte die Lügen? Aber jetzt pass auf!
2: Ja?
1: Zeigt man dem gleichen Indianer ein Farbfoto, dann
haut ihn das zwar auch nicht um, aber erkennt zumindest, was er da vor sich
hat.
2: Na gut - Schwarzweiss erkennt er nicht, Farbe
erkennt er, gut. Ich meine, das ist ohne Zweifel ... nun ja, verwunderlich, aber
sonst ...? Was willst du damit sagen? Was beweist das, ausser, dass
dem Indianer ein Schwarzweiss-Bild einfach zu abstrakt ist, nicht
realistisch genug, meine ich?
1: Das, was du eben gesagt hast.
2: Wie bitte? Ich verstehe nicht ...
1: Der Indianer - wie gesagt, einer der noch in beinahe
steinzeitlichen Verhältnissen lebt - erkennt ein Farbfoto, weil er hier
etwas vor sich hat, was er direkt mit dem Vergleichen kann, was er über
seine Sinne aus der Natur empfängt. Dagegen ist ihm ein
Schwarzweissbild, genau wie du gesagt hast, einfach zu abstrakt. Sein
Gehirn schafft den geistigen Akt nicht, in diesem Bild aufgrund des Mangels an
Farbe den Bezug zur Realität herzustellen.
2: So langsam verstehe ich, worauf du hinaus willst.
Der Indianer ist wie der Steinzeitmensch nicht in der Lage abstrakt zu denken -
oder zumindest nur in beschränkten Masse. Das heisst aber
auch wiederum, dass er, wenn er ein Bild malt, nicht abstrakt vorgeht -
also die Natur, so wie er sie sieht, in irgendeiner Weise verfälscht -,
sondern wohl oder übel so wiedergibt, wie er sie sieht, einfach weil er es
gar nicht anders kann, auch wenn er wollte.
1: Eben. Und daher meine ich, wenn die steinzeitlichen
Höhlenmalereien samt und sondern 2-dimensional sind, dann kann das
eigentlich nur heissen, dass der Steinzeitmensch eben nur
zwei-dimensional gesehen hat.
2: Tja ... Also, da ist schon irgendwo etwas Logisches
dran, kann man nicht anders sagen.
1: Aber lass uns jetzt doch einmal weitergehen in
der Geschichte. Denk einmal an die Ägypter. Ein Hochkultur, erstaunliche
Leistungen, die Pyramiden, Medizin, Religion - grossartig! Ohne Zweifel
intelligente Menschen, oder?
2: Ohne Zweifel. Aber wenn man sich ihre Gemälde
ansieht ...
1: ... sind die flach und ohne Raum, genau. Profil wird
grossgeschrieben. Alles wird seitlich dargestellt.
2: Und das könnte man als eine Notlösung zur
Darstellung für vorhandenen aber mit zeichnerischen Mitteln nicht
umsetzbaren Raum verstehen. Denn das es einen Raum gibt, spürten sie ja,
auch wenn sie ihn vielleicht nicht sehen konnten.
1: Das meine ich auch. Und jetzt überlege doch
einmal: Ein Volk, das Bauwerke errichtete, die über Jahrtausende erhalten
bleiben, soll keine halbwegs realistischen Bilder fertigen gekonnt haben?
Schwer vorstellbar, oder?
2: Also das ist doch ... Irre, Mann! Aber es ist wahr.
Auch wenn man weiter in die Geschichte vordringt. Hellenismus, die Griechen,
Stützen der westlichen, abendländischen Kultur, aber ihre Bilder
waren flach.
1: Ja - zumindest in der Anfangszeit; die Griechen
entwickelten die Perspektive. Räumlichkeit wurde bereits schon in der
Anfangszeit dadurch dargestellt, das man hinten liegende Dinge einfach
hochgesetzt und kleiner gemalt hatte. Doch mit der Entwicklung der Mathematik,
insbesondere der Geometrie, Fluchtpunkte ansetzen und so, Verfeinerten sie ihre
Techniken immer weiter.
2: Und die Römer arbeiteten auch schon mit Licht
und Schatten. Das habe ich auf Wandbildern aus Pompeii gesehen.
1: Ja, die Römer und auch schon die Griechen
konnten dreidimensional sehen. Allerdings mussten die Griechen erst
lernen, diese Wirklichkeit, wie sie sie sahen, mit zeichnerischen Mitteln
umzusetzen.
2: Aber sie lernten es wenigstens, während die
Ägypter ja nicht einmal den Versuch dazu unternahmen. Faszinierend.
1: Faszinierend, ganz recht.